Sprungmarken zu den wichtigsten Seitenabschnitten


Suche Hauptnavigation A-Z Übersicht Hauptinhalt Servicelinks

Internetpräsentation IHK Saarland - Partner der Wirtschaft


Positionen

Kennzahl: 17.4305

Gefährliche Rolle rückwärts

Von Volker Giersch
Standpunkt

01.11.2007

Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten kürzlich eindringlich an die Politik appelliert, die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 ohne Abstriche beizubehalten und weiter auf Reformkurs zu bleiben. Ansonsten würde die Politik die Beschäftigungserfolge, die wir zuletzt erzielen konnten, wieder aufs Spiel setzen. Die Institute unterstützen damit den Appell der Wirtschaft an die große Koalition, die Reformpolitik fortzusetzen statt in eine populistische, rückwärtsgewandte Politik zu verfallen. In der Presseerklärung der Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft – DIHK, ZDH, BDI und BDA – heißt es wörtlich: „Keine Rolle rückwärts bei Reformen! Macht den Aufschwung nicht kaputt!“

Risiken, dass die große Koalition die Reformschraube zurückdreht, lauern an mindestens vier Fronten:
  • Erstens wächst das Lager derer, die die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere verlängern wollen. Konkrete Vorschläge dazu gibt es inzwischen  in beiden Koalitionsparteien.
  • Zweitens mehren sich die Stimmen, die bei der gerade erst beschlossenen Rente mit 67 weitere Ausnahmeregelungen fordern.
  • Drittens beklagen zunehmend mehr Sozialpolitiker, dass die boomende Leiharbeitsbranche den Aufbau von dauerhaften Arbeitsplätzen an anderer Stelle verhindert und fordern eine stärkere Regulierung der Leiharbeit.
  • Viertens schließlich gibt es immer wieder neue Vorstöße, gesetzliche Mindestlöhne für einzelne Branchen oder gar für die Wirtschaft im Ganzen festzulegen.
Gute soziale Absicht ....
All diese Vorschläge gehören in die Rubrik „gute soziale Absicht, böse soziale Folge“. Sie gaukeln vor, dass sich durch soziale Wohltaten ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit erreichen lässt. Und sie blenden aus, dass ihre Umsetzung starke Bremswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung auslösen würde.

Betrachten wir zunächst den Arbeitsmarkt für ältere Menschen. Tatsache ist: Die Arbeitslosigkeit der über 55-Jährigen ist in den vergangenen Monaten überdurchschnittlich stark gesunken. Die Chancen der Älteren, eine Beschäftigung zu finden, sind deutlich gestiegen. Das liegt zum einen daran, dass die Konjunktur brummt und qualifizierte Arbeitskräfte insgesamt knapper geworden sind. Es liegt aber auch daran, dass die Anreize für ältere Arbeitslose, wieder eine Arbeit aufzunehmen, durch die Agenda 2010 deutlich gestärkt wurden.

Würde die Koalition diese Anreize jetzt wieder abschwächen, dann würde sie die erreichten Erfolge gefährden. Zugleich würde sie ihre Bestrebungen konterkarieren, unser Land demografiefit zu machen: Deutschland ist eine alternde Gesellschaft. Im Saarland wird in gut zwei Jahrzehnten fast ein Drittel der Menschen älter als 65 Jahre sein. Gleichzeitig sinkt die Zahl der neu ins Erwerbsleben Eintretenden ebenfalls um fast ein Drittel. Eine unausweichliche Konsequenz daraus ist, dass wir länger arbeiten müssen: mehr Arbeitsstunden im Jahr und – vor allem – mehr Jahre im Leben. Ansonsten werden wir den Wohlstand in Deutschland nicht halten und unsere sozialen Sicherungssysteme nicht mehr finanzieren können.

Deshalb müssen wir alles tun, um ältere Arbeitnehmer länger in Arbeit zu halten und ältere Arbeitslose möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der beste Weg dazu ist, wie auch der Bundesarbeitsminister vorschlägt, ihnen attraktive Qualifizierungsangebote zu unterbreiten und dadurch ihre Beschäftigungschancen gezielt zu verbessern.

Diese Chancen werden umso größer sein, je höher die Beschäftigungsdynamik in unserem Land ist. Auf den Punkt gebracht heißt das: Die finanziellen Spielräume, die es bei der Arbeitslosenversicherung derzeit gibt, sind konsequent zu nutzen, um die Beitragssätze weiter zu senken. Denn wir wissen heute: Ein Prozentpunkt weniger bei den Sozialabgaben bedeutet per Saldo 100.000 neue Arbeitsplätze. In Zeiten des Jugendschwundes wird dieser Zuwachs insbesondere den älteren Arbeitnehmern zugute kommen.

Aus diesem Grund sind auch weitere Ausnahmen bei der Rente mit 67 falsch. Sie führen uns dazu, dass die Beiträge zur Rentenversicherung in den kommenden Jahren stärker steigen werden. Und das geht dann zu Lasten der Beschäftigung.

Reformbedarf bei der Rente gibt es stattdessen in die andere Richtung. Wer die demografische Entwicklung bis 2050 studiert, erkennt rasch, dass die Rente mit 67 nicht das letzte Wort sein kann. In nicht allzu ferner Zeit werden wir über die Rente mit 68, 69 oder gar 70 diskutieren. Je stärker wir die aktuelle Rentenreform aufweichen, desto früher wird das der Fall sein!

Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat kürzlich in unserer IHK vorgerechnet, dass wir im Jahre 2050 bis 74 arbeiten müssen, wenn wir die Beitragssätze stabil halten und das Rentenniveau nicht weiter absenken wollen. Natürlich lassen sich die Stellschrauben auch anders kombinieren. Und etwas „Luft“ würden auch eine höhere Erwerbsbeteiligung, ein früherer Schulbeginn und kürzere Ausbildungsdauern schaffen. Doch gleich was wir tun: Ohne eine weitere Heraufsetzung des Rentenalters wird es auf Dauer nicht gehen. Warum also den Menschen jetzt falsche Hoffnungen machen?

Um die Frage von mehr oder weniger Beschäftigung geht es auch bei der Zeitarbeit. Unstrittig ist, dass es auf diesem Wege gerade in jüngster Zeit gelungen ist, zahlreiche geringqualifizierte Erwerbslose in Arbeit zu bringen und dadurch die strukturelle Arbeitslosigkeit deutlich zu senken. Bundesweit bietet die Branche mittlerweile über 600.000 Arbeitsplätze. Im Saarland sind es rund 10.000. Das entspricht gut 2,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten – ein Spitzenwert im Ländervergleich. Dass die Zeitarbeit derzeit boomt, liegt nicht nur an der guten Konjunktur. Es hat auch damit zu tun, dass die Deregulierung im Zuge der Hartz-Reformen für zusätzliche Dynamik sorgte.

... böse soziale Folgen
In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die das Rad wieder zurückdrehen wollen. Sie argumentieren, dass Zeitarbeit nicht mehr vorrangig zum Auffangen von Produktionsspitzen eingesetzt würde, sondern zunehmend zu Lasten der Stammbeschäftigung in den Unternehmen gehe. Im Ergebnis würden dadurch gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze durch schlecht bezahlte und unsichere Jobs ersetzt. Deshalb gelte es, die Zeitarbeit wieder zurückzudrängen.

Diese Einschätzung ist ebenso falsch wie gefährlich. Denn es ist reines Wunschdenken zu glauben, dass bei Eindämmung der Zeitarbeit gleich viele – nur besser bezahlte – Jobs in anderen Bereichen der Wirtschaft entstehen würden. Die Konsequenz wäre vielmehr, dass per Saldo zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen. Treffen würde das vor allem jene Arbeitnehmer, die auf dem Arbeitsmarkt die geringsten Beschäftigungschancen haben: die Angelernten und Ungelernten. In vielen Branchen der Wirtschaft liegen die tariflichen Mindestlöhne so hoch, dass sich eine Beschäftigung Geringqualifizierter zumeist nicht rechnet. Für viele dieser Beschäftigten gibt es deshalb zur Zeitarbeit kaum eine realistische Alternative. Im Saarland sind immerhin 5.600 der 10.000 Zeitarbeiter ungelernt oder angelernt.

Wer will, dass mehr Geringqualifizierte in Dauerbeschäftigung kommen, muss deshalb nach Wegen suchen, die nicht am Symptom, sondern an der Wurzel ansetzen. Ein probates Rezept heißt: Lockerung des Kündigungsschutzes. Die skandinavischen Länder haben vorgemacht, wie viel zusätzliche Beschäftigungsdynamik sich dadurch entfachen lässt. Sie haben verstanden, dass hohe Hürden beim Kündigungsschutz stets auch hohe Barrieren bei der Einstellung neuer Mitarbeiter sind und entsprechend gehandelt.

Ein anderes Rezept heißt, die Lohnskala nach unten öffnen. Denn Arbeitskräfte werden nur eingestellt, wenn sie in den Unternehmen mindestens das erwirtschaften, was sie kosten. Leider gibt es derzeit eher gegenteilige Bestrebungen. Das Stichwort heißt gesetzlich verankerte Mindestlöhne.

Die Forderung gründet auf dem unbestrittenen Befund, dass es in einigen Dienstleistungsbranchen Tarifgruppen gibt, die den Beschäftigten kein auskömmliches Nettoeinkommen sichern. Das Postulat heißt deshalb: Wer ganztags arbeitet, muss so viel verdienen, dass er aus seinem Arbeitseinkommen den Lebensunterhalt bestreiten kann. Soweit die gute soziale Absicht. Die fatale Folge davon wäre, dass mehr als eine Million Geringverdiener ihre Arbeit verlieren würden und dann ganz auf staatliche Hilfe angewiesen wären.

Deshalb ist es die weitaus sozialere Lösung, Niedriglöhne weiterhin zuzulassen und diese über ergänzende staatliche Hilfe aufzustocken. Der Niedriglohnempfänger erreicht auch so ein auskömmliches Einkommen. Der Staat spart viel Geld, weil die Aufstockung des Niedriglohnes weit weniger kostet als die Finanzierung der Arbeitslosigkeit. Und die Geringqualifizierten haben eine faire Chance, sich durch Arbeit zu qualifizieren und im Laufe der Jahre höhere Einkommen zu erzielen.

Bleibt als Fazit: Eine arbeitsmarktpolitische Rolle rückwärts würde weit mehr Unsoziales als Soziales bewirken. Der Rat an die Politik lautet deshalb: Wehret den Anfängen! Die Sehnsucht nach sozialen Utopien war noch nie ein guter Ratgeber.